Sonntag, 8. Mai 2016

Der Charme der Liebe. Zum nachsynodalen Schreiben von Papst Franziskus

Einleitung

1. Ein Papst schlägt neue Töne an

2. Die moraldoktrinäre Ausgangslage  


3. Die päpstliche Programmatik der Umorientierung

3.1 Der Primat der Barmherzigkeit

3.2 Die Überwindung des Schwarz-Weiß-Denkens

3.2.1 Die Logik des Evangeliums 

3.2.2 Weg von der Defizitorientierung, hin zur wertschätzenden Wahrnehmung

3.2.3 Gradualität, Unterscheidung und daraus folgende Konsequenzen

3.2.4 Normabweichung und Anrechenbarkeit

3.3 Die Wieder-in–Kraft-Setzung der persönlichen Gewissensentscheidung

4. Synodalität und die Zulassung von divergierenden Interpretationen der einen Lehre

Schluss




Einleitung


Am 8. April 2016 wurde das päpstliche Nachsynodale Apostolische Schreiben "Amoris laetitia" (Al) im Vatikan präsentiert. Der erste Satz dieses Werkes - "Die Freude der Liebe, die in der Familie gelebt wird, ist auch die Freude der Kirche." (Al 1) - ist offensichtlich in bewusster Analogie zum ersten Satz der Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) formuliert: "Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute ... sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi." Der facettenreiche Text, der aus Erörterungen, Katechesen, Beschreibungen und Ermahnungen zusammengesetzt ist, bündelt in 325 Abschnitten einen gesamtkirchlichen Reflexionsprozess zu Ehe und Familie, der mit der Ankündigung der Doppelsynode im Herbst 2013 begonnen hatte. Bei der Pressekonferenz hebt Kardinal Schönborn hervor, dass hier ein kirchliches Dokument vorliegt, das lesbar und in seiner Schlichtheit und Lebensnähe herzerwärmend ist. 

„ Meine große Freude an diesem Dokument ist, dass es konsequent die künstliche, äußerliche, fein säuberliche Trennung von 'regulär' und 'irregulär' überwindet und alle unter den gemeinsamen Anspruch des Evangeliums stellt, gemäß dem Wort des Hl. Paulus: 'Er hat alle in den Ungehorsam eingeschlossen, um sich aller zu erbarmen' (Röm 11,32).“„Es geht um eine Grundeinsicht des Evangeliums: Wir bedürfen alle der Barmherzigkeit! … Alle, in welcher Ehe- und Familiensituation wir uns befinden, sind unterwegs. Auch eine Ehe, bei der alles ‚stimmt’, ist unterwegs. Sie muss wachsen, lernen, neue Etappen schaffen. Sie kennt Sünde und Versagen (und) braucht Versöhnung und Neubeginn.“ (Schönborn, 08.04.2016)

In meinem Blogbeitrag versuche ich transparent zu machen, in welchen kirchlichen Traditionslinien sich der Papst verortet, und wie er es zuwege bringt, eine über Jahrzehnte in Lethargie verfallene katholische Morallehre zum Tanzen zu bringen. Entscheidend dabei ist, dass Franziskus dies nicht im Alleingang macht, sondern sich auf den synodalen Weg des gemeinsamen Voranschreitens von Laien, Klerikern und dem Bischof von Rom begeben hat. Katholische Traditionalisten haben sich sofort nach dem Erscheinen des Schreibens auf die Suche gemacht, um diesem Papst, der verabsolutierte Moralgesetze hinter sich lässt, der Häresie zu überführen. Das ist ihnen allerdings nicht gelungen, denn der Nachfolger Petris hat bereits während der beiden Synoden mit seinen Mitstreitern auf konsensuelle Erneuerung gesetzt. Der in allen Abschnitten mit Zwei-Drittel-Mehrheit angenommene Abschlussbericht der Synode 2015, ist die Ernte, die Franziskus nach seinem umsichtigen Säen im Vorfeld einfahren konnte. (vgl. meinen Blogbeitrag vom 12.12.2015) Von daher brauchte er bei „Amoris laetitia“ nicht über die Synodenergebnisse hinausgehen, um dennoch einen Prozess dynamischer Lehrentwicklung einleiten zu können.



1. Ein Papst schlägt neue Töne an



Papst Franziskus kommt nicht nur – wie er selbst sagt – vom anderen Ende der Welt, sondern er wirkt auch in seinem Auftreten und in seiner Redeweise manchmal wie von einem anderen Stern. So mancher fragt sich, wie es sein kann, dass der Pontifex in seinem nachsynodalen Schreiben einerseits betont, „dass auf die unverkürzte Vollständigkeit der Morallehre der Kirche zu achten ist“ (Al 311) und auf der anderen Seite postuliert, dass „es nicht mehr möglich (ist), zu behaupten, dass alle, die in irgendeiner sogenannten 'irregulären' Situation leben, sich in einem Zustand der Todsünde befinden und die heiligmachende Gnade verloren haben.“  (Al 301) Ich werde am Schluss meines Beitrages auf diesen vermeintlichen Widerspruch zu sprechen kommen.
Es gibt journalistische Stimmen, die Franziskus der Simplizität verdächtigen, oder ihm unterstellen, dass er sich für Theologie einfach nicht interessiere oder er sich auf eine rein pastorale Wahrnehmungsperspektive beschränke. Dem ist ganz und gar nicht so, denn Franziskus ist insofern hochtheologisch, als er die päpstlichen Lehrschreiben der vergangenen Jahrzehnte aus der Perspektive des II. Vatikanums gegenliest, und von seinen Vorgängern nur das übernimmt, was dieser Überprüfung standhält. Außerdem lässt sich zeigen, dass manche seiner Äußerungen, die eigenwilig und unkonventionell erscheinen, eine Wurzel in der 2000jährigen Tradition der Kirche haben.

Wie empfindet der Leser zum Beispiel folgende zentrale Äußerung aus der Enzyklika „Laudato si“ vom Mai 2015?
„Die Schöpfung ist in der Ordnung der Liebe angesiedelt. Die Liebe Gottes ist der fundamentale Beweggrund der gesamten Schöpfung: ‚Du liebst alles, was ist, und verabscheust nichts von allem, was du gemacht hast; denn hättest du etwas gehasst, so hättest du es nicht geschaffen’ (Weish11,24). Jedes Geschöpf ist also Gegenstand der Zärtlichkeit des Vaters, der ihm einen Platz in der Welt zuweist. Sogar das vergängliche Leben des unbedeutendsten Wesens ist Objekt seiner Liebe, und in diesen wenigen Sekunden seiner Existenz umgibt er es mit seinem Wohlwollen.“ (Ls 77)

Mancher wird beim Lesen wohl die Maxime des Ignatius von Loyola - „Gott in allen Dingen suchen und finden“ - assozieren. Der Religionspädagoge Holger Dörnemann hat in seinem Blog „Papst Franziskus’ synodaler Weg zu Amoris laetitia“ darauf hingewiesen, dass Papst Franziskus einen weit größeren theologischen Bogen spannt, „als viele seiner Kritiker ahnen (können), insofern dieser im Anschluss an eine breite theologische Strömung der östlichen und patristischen Tradition ein lange außer Acht gelassenes kosmologisches Denken der Christentumsgeschichte in neuer Weise wieder einbezieht." 

Die durch Papst Franziskus über „Laudato si“ ins Zentrum gerückte Schöpfungstheologie und – spiritualität prägen auch sein nachsynodales Schreiben. Was damit gemeint ist, ist besonders prägnant im Schlusstext der außerordentlichen Bischofssynode 2014 formuliert: „Auf Grund der göttlichen Pädagogik, entsprechend der sich die Schöpfungsordnung in aufeinander folgenden Schritten in die Erlösungsordnung verwandelt, muss das Neue am christlichen Ehesakrament in Kontinuität mit der natürlichen Ehe (sc. Ehe zwischen zwei Ungetauften, Verf.) des Anfangs verstanden werden.“ (Relatio synodi 2015, 37) Das bedeutet, dass sich christliche und nichtchristliche Ehe in diesem Verständnis nur graduell unterscheiden.

Grundgelegt wurde diese Auffassungsweise durch das II. Vatikanum, wo in der Pastoralkonstitution „Lumen Gentium“ vom November 1964 davon die Rede ist, dass außerhalb des Gefüges der katholischen Kirche „vielfältige Elemente der Heiligung und der Wahrheit zu finden sind.“ (LG 8) Und in dem Dekret „Ad gentes“ vom Dezember 1965 wird hinsichtlich anderer Kulturen und Religionen an die Christgläubigen appelliert, dass diese „mit Freude und Ehrfurcht … die Saatkörner des Wortes (semina Verbi, Verf.) aufspüren sollen, die in ihnen verborgen sind.“ (Ag 11)

Auf diesem Fundament schreibt Franziskus im Einklang mit der Synode: „Die Unterscheidung des Vorhandenseins der semina Verbi in den anderen Kulturen … kann auch auf die Realität von Ehe und Familie angewandt werden. Über die wahre Naturehe (das Eheband bejahend, Verf.) hinaus gibt es wertvolle Elemente in den Eheformen anderer religiöser Traditionen.“ (Al 77)

Franziskus fällt es nicht schwer, sich unter Heranziehung des Prinzips der „semina Verbi“ der realen Vielfalt von Paarbeziehungen und Familien in unserer Gesellschaft zuzuwenden:
„Der Blick Christi, dessen Licht jeden Menschen erleuchtet …, leitet die Pastoral der Kirche gegenüber jenen Gläubigen, die einfach so zusammenleben oder nur zivil verheiratet oder geschieden und wieder verheiratet sind. In der Perspektive der göttlichen Pädagogik wendet sich die Kirche liebevoll denen zu, die auf unvollkommene Weise an ihrem Leben teilhaben.“ (Al 78) Sie versucht ihnen nahe zu bringen, dass auch in ihrem Leben die Gnade Gottes wirkt, und hilft ihnen, „für sich die Fülle des göttlichen Planes zu erreichen, was mit der Kraft des Heiligen Geistes immer möglich ist.“ (Al 297)

Dadurch, dass Franziskus alle miteinbezieht und jedem die Barmherzigkeit des bedingungslos liebenden Gottes zuspricht, hat der moralische Zeigefinger keine Relevanz mehr und Franziskus kann die Freude des Evangeliums ungetrübt verkünden. „Deshalb ist die Lektüre von Amoris Laetitia so wohltuend. Keiner muss sich verurteilt, keiner verachtet fühlen. In diesem Klima des Angenommenseins wird die Rede von der christlichen Sicht von Ehe und Familie zur Einladung, zur Ermutigung, zur Freude über die Liebe, an die wir glauben dürfen und die niemanden, wirklich und ehrlich niemand ausschließt.“ (Kardinal Schönborn, Pressekonferenz, 08.04.2016)



2. Die moraldoktrinäre Ausgangslage


Als Papst Franziskus 2013 bereits in den ersten Monaten seines Pontifikats die Absicht hegte, eine Bischofssynode zum Thema Familie auf den Weg zu bringen, hatte er sich in gewisser Weise Unmögliches vorgenommen. Denn das moraltheologische Gelände war in seiner Apodiktik und Rigorosität quasi zubetoniert.

Empfängnisverhütung
Paul VI., Enzyklika Humanae vitae 1968
Die Kirche lehrt, „dass jeder ‚eheliche Akt’ von sich aus auf die Erzeugung menschlichen Lebens hingeordnet bleiben muss." (Hv 11) Es „ist jede Handlung verwerflich, die entweder in Voraussicht oder während des Vollzugs des ehelichen Aktes ... darauf abstellt, die Fortpflanzung zu verhindern ...“ (Katechismus der katholischen Kirche, KKK, 599)

Nichteheliche und voreheliche Paarbeziehungen
Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Familiaris consortio 1981
„In ihrer Sorge um den Schutz der Familie in all ihren Dimensionen … ist die Bischofssynode auch auf einige Situationen besonders eingegangen, die … irregulär sind und sich infolge des heute so raschen kulturellen Wandels leider auch unter Katholiken ausbreiten.“ (Fc 79) Irreguläre Situationen „verletzen die Würde der Ehe; sie zerstören den Grundgedanken der Familie; sie schwächen den Sinn für Treue. … Der Geschlechtsakt darf ausschließlich in der Ehe stattfinden; außerhalb der Ehe ist er stets eine schwere Sünde und schließt vom Empfang der Heiligen Kommunion aus.“ (KKK, 2390)

Gleichgeschlechtlich Liebende
Joseph Ratzinger, Präfekt der Glaubenskongregation, Schreiben an die Bischöfe der katholischen Kirche über die Seelsorge für homosexuelle Personen 1986
„Die spezifische Neigung der homosexuellen Person … begründet … eine mehr oder weniger starke Tendenz, die auf ein sittlich betrachtet schlechtes Verhalten ausgerichtet ist. Aus diesem Grunde muß die Neigung selbst als objektiv ungeordnet angesehen werden.“ (Nr. 3) „Homosexuelle(n) Handlungen … verstoßen gegen das natürliche Gesetz, denn die Weitergabe des Lebens bleibt beim Geschlechtsakt ausgeschlossen. Sie entspringen nicht einer wahren affektiven und geschlechtlichen Ergänzungsbedürftigkeit. Sie sind in keinem Fall zu billigen.“ (KKK 2357) Der Kommunionausschluss versteht sich von selbst.

Wiederverheiratet Geschiedene
Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Familiaris consortio 1981
„Die Kirche bekräftigt jedoch ihre auf die Heilige Schrift gestützte Praxis, wiederverheiratete Geschiedene nicht zum eucharistischen Mahl zuzulassen. Sie können nicht zugelassen werden; denn ihr Lebensstand und ihre Lebensverhältnisse stehen in objektivem Widerspruch zu jenem Bund der Liebe zwischen Christus und der Kirche, den die Eucharistie sichtbar und gegenwärtig macht. … Die Wiederversöhnung im Sakrament der Buße, das den Weg zum Sakrament der Eucharistie öffnet, kann nur denen gewährt werden, welche … sich verpflichten, völlig enthaltsam zu leben, das heißt, sich der Akte zu enthalten, welche Eheleuten vorbehalten sind.“ (Nr. 84)
Joseph Ratzinger, Präfekt der Glaubenskongregation, Zu einigen Einwänden gegen die     kirchliche Lehre über den Kommunionempfang von wiederverheirateten geschiedenen Gläubigen 1998
Nach Kardinal Ratzinger ist die Unauflöslichkeit der Ehe eine Norm göttlichen Rechts, die auf den Herrn selbst zurückgeht und über die die Kirche keine Verfügungsgewalt hat. „Wenn die vorausgehende Ehe von wiederverheirateten geschiedenen Gläubigen gültig war, kann ihre neue Verbindung unter keinen Umständen als rechtmäßig betrachtet werden, daher ist ein Sakramentenempfang aus inneren Gründen nicht möglich. Das Gewissen des einzelnen ist ausnahmslos an diese Norm gebunden.“ Der Ausschluss von den Sakramenten gilt quasi lebenslänglich, denn „zur heiligen Kommunion dürfen (diejenigen) nicht zugelassen werden …, die hartnäckig in einer offenkundigen schweren Sünde verharren.“ (CIC, can. 915)

Was das katholische Lehramt in den letzten Jahrzehnten eineindeutig und mit hoher Verbindlichkeit formuliert hat, läuft auf ein geschlossenes System, dem ein Gut-böse-Dualismus eingeschrieben ist, hinaus, und findet seinen Ausdruck in polarisierenden Zuschreibungen:


             Gut                                          vs.                   Böse

             Rein                                        vs.                    Unrein

             Natürlich                                  vs.                    Widernatürlich

             Tugendhaft                              vs.                    Sündig

             Im Stand der Gnade                 vs.                    Im Stand der schweren Sünde

             Keusch                                    vs.                    Unzüchtig

             Ordentlich                                vs.                    Unordentlich 

             Regulär                                    vs.                    Irregulär




Papst Franziskus weiß aus seiner pastoralen Praxis, wie zerstörerisch sich die Aufspaltung von KatholikInnen in ordentliche und unordentliche Gläubige im konkreten Einzelfall auswirkt und möchte die Kirche von einer verurteilenden und ausgrenzenden Haltung wegbringen. Diese Veränderung von oben herab – aufgrund seiner unbegrenzten Machtausstattung - par ordre du mufti zu bewerkstelligen, kommt für Papst Franziskus allein schon aufgrund seines Verständnisses von Kirche als Volk Gottes und seiner Kollegialität mit den Mitbischöfen nicht in Frage. Außerdem würde er so Gefahr laufen, der Häresie (Irrlehre) bezichtigt zu werden, was zu einem Schisma (Kirchenspaltung) führen könnte. Die Aufgabe des Pontifex besteht also darin, die gegenwärtige Kirche Jesu Christi auf dem Boden der theologischen und lehramtlichen Tradition und unter synodaler Beteiligung des Volkes Gottes und seiner Hirten zu neuen Ufern zu führen. Die Umsetzung dieses Vorhabens nimmt dann in Form der Einberufung einer außerordentlichen (2014) und einer ordentlichen Bischofssynode (2015) zum Thema Ehe und Familie, denen jeweils eine weltweite Befragung der Gläubigen vorausgeht, Gestalt an.



3. Die päpstliche Programmatik der Umorientierung


Papst Franziskus will die katholische Morallehre aus ihrer starren Rigidität herausführen und setzt ein bei einer in Johannes Pauls II. Schreiben „Familiaris consortio“ von 1981 aufzuweisenden Inkonsistenz. Dort werden einerseits alle wiederverheirateten geschiedenen Gläubigen dem Urteil unterworfen, dass „ihr Lebensstand und ihre Lebensverhältnisse … in objektivem Widerspruch zu jenem Bund der Liebe zwischen Christus und der Kirche (stehen), den die Eucharistie sichtbar und gegenwärtig macht“ – mit der Folge des Ausschlusses von der Kommunion -, andererseits werden die Hirten aufgefordert, zu „beherzigen, dass sie um der Liebe zur Wahrheit willen verpflichtet sind, die verschiedenen Situationen gut zu unterscheiden. Es ist ein Unterschied, ob jemand trotz aufrichtigen Bemühens, die frühere Ehe zu retten, völlig zu Unrecht verlassen wurde oder ob jemand eine kirchlich gültige Ehe durch eigene schwere Schuld zerstört hat.“ (Fc 84) 

Franziskus distanziert sich von einer reinen Moral des Gesetzes und kritisiert Hirten, die sich „damit zufrieden geben … moralische Gesetze (so) anzuwenden, als seien es Felsblöcke, die man auf das Leben von Menschen wirft.“  Denn „aufgrund der Bedingtheiten oder mildernder Faktoren ist es möglich, dass man mitten in einer objektiven Situation der Sünde – die nicht subjektiv schuldhaft ist oder es zumindest nicht völlig ist – in der Gnade Gottes leben kann, dass man lieben kann und dass man auch im Leben der Gnade und der Liebe wachsen kann, wenn man dazu die Hilfe der Kirche bekommt.“ (Al 305)

Durch eine solche Moral der Person und ihrer je spezifischen Situation wird die Dichotomie von regulär und irregulär obsolet, so dass der Pontifex konsequenterweise in „Amoris laetita“ nur noch von sogenannten „irregulären“ Situationen spricht. Nachdem es keine generellen Regeln gibt, die allen Einzelfällen gerecht werden könnten, ermutigt er „zu einer verantwortungsvollen persönlichen und pastoralen Unterscheidung der je spezifischen Fälle. Und da ‚der Grad der Verantwortung nicht in allen Fällen gleich ist’, müsste diese Unterscheidung anerkennen, dass die Konsequenzen oder Wirkungen einer Norm nicht notwendig immer dieselben sein müssen.“ (Al 300) Papst Franziskus beschreitet damit einen Weg, der von der statischen Be- und Verurteilung weg und hin zu einer dynamischen Entwicklung führt.


3.1 Der Primat der Barmherzigkeit


Am Ende seines nachkonziliaren Schreibens „Reconciliatio et paenitentia“ von 1984 kommt Papst Johannes Paul II. auf die wiederverheiratet Geschiedenen zu sprechen, deren Lage ihm „als besonders schwierig und fast unentwirrbar (erscheint).“ In diesem Zusammenhang spricht er von zwei Grundsätzen, die gleich wichtig sind und sich gegenseitig bedingen.
„Der erste ist der Grundsatz des Mitgefühls und der Barmherzigkeit, nach welchem die Kirche … darauf bedacht ist, das geknickte Rohr nicht zu brechen oder den glimmenden Docht nicht zu löschen. … Der andere ist der Grundsatz der Wahrheit und Folgerichtigkeit, aufgrund dessen die Kirche es nicht duldet, gut zu nennen, was böse ist, und böse, was gut ist.“ (Rep 34)

Zehn Jahre später bezieht sich der Präfekt der Glaubenskongregation, Joseph Ratzinger, auf diese Aussage, als er zum Kommunionempfang von wiederverheirateten geschiedenen Gläubigen Stellung nimmt: „Im Wissen darum, daß wahres Verständnis und echte Barmherzigkeit niemals von der Wahrheit getrennt sind, haben die Hirten die Pflicht, diesen Gläubigen die Lehre der Kirche … hinsichtlich des Kommunionempfangs in Erinnerung zu rufen. … Wenn Geschiedene zivil wiederverheiratet sind, befinden sie sich in einer Situation, die dem Gesetz Gottes objektiv widerspricht. Darum dürfen sie, solange diese Situation andauert, nicht die Kommunion empfangen.“  (Nr. 3/4)

An diese - universelle Gültigkeit beanspruchende - apodiktische Normgebung sind zwei Anfragen zu stellen:
1. Stimmt denn die päpstliche Aussage, dass Barmherzigkeit und Wahrheit gleich wichtig sind?
2. Wie lässt sich die unterschiedslose Sanktionierung von wiederverheiratet Geschiedenen mit einer zentralen Aussage Pauls VI. in der Enzyklika „Humane vitae“ vereinbaren: „Denn obwohl er gekommen war; nicht um die Welt zu richten, sondern zu retten, war er zwar unerbittlich streng gegen die Sünde, aber geduldig und barmherzig gegenüber den Sündern.“ (Hv 29)

Zur zweiten Frage äußert sich Papst Franziskus in der Generalaudienz vom 20.04.2016. Er bezieht sich dabei auf eine Episode im Lukasevangelium, in der es um eine Sünderin geht, die Jesus im Haus eines Pharisäers die Füße salbt. 
„Der Pharisäer kann nicht begreifen, dass Jesus sich – in Anführungszeichen – von den Sündern infizieren lässt … Er denkt: Wenn das wirklich ein Prophet wäre, müsste er die Sünder von sich fernhalten, als ob es Aussätzige wären. Diese Haltung ist typisch für eine gewisse Art und Weise, Religion zu verstehen: Da werden Gott und die Sünde einander radikal entgegengesetzt. Genau hier greife aber die Unterscheidung, die die Heilige Schrift zwischen der Sünde und dem Sünder treffe. Keinen ‚Kompromiss’ mit der Sünde, aber ‚Behandlung und Heilung’ für den Kranken.“
Bereits 2013 hat Franziskus in seinem Schreiben „Evangelii gaudium“ (Eg) die Verbindung von Sünder und Kommunionempfang aufgezeigt: „Die Eucharistie ist, obwohl sie die Fülle des sakramentalen Lebens darstellt, nicht eine Belohnung für die Vollkommenen, sondern ein großzügiges Heilmittel und eine Nahrung für die Schwachen.“ (Nr. 47)

Die erste Frage wurde im zweiten Zwischenbericht des germanischen Zirkels bei der Bischofssynode 2015 beantwortet. Die deutschsprachigen Bischöfe arbeiteten die theologische Beziehung von Barmherzigkeit und Wahrheit, Gnade und Gerechtigkeit heraus: „Sie sind in Gott keine sich gegenüber stehenden Gegensätze: Weil Gott Liebe ist, fallen in Gott Gerechtigkeit und Barmherzigkeit in eins. Die Barmherzigkeit Gottes ist die grundlegende Offenbarungswahrheit, die nicht im Gegensatz steht zu anderen Offenbarungswahrheiten. … Die Barmherzigkeit Gottes erschließt uns … den Grund und das Ziel des gesamten Heilswerkes.“ (DBK: Aktuelle Meldung, 14.10.2015 - Nr. 035)

In der Verkündigungsbulle „Misericordiae vultus“ vom 11.04.2015 schreibt Papst Franziskus: „Wenn Gott bei der Gerechtigkeit stehen bliebe, dann wäre er nicht mehr Gott, sondern vielmehr wie die Menschen, die die Beachtung des Gesetzes einfordern. Die Gerechtigkeit alleine genügt nicht und die Erfahrung lehrt uns, dass wer nur an sie appelliert, Gefahr läuft, sie sogar zu zerstören. Darum überbietet Gott die Gerechtigkeit mit der Barmherzigkeit und der Vergebung.“ Und in „Amoris laetitiae“ findet er sehr schöne Worte für die Zuordnung von Wahrheit, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit:
„Es ist zum Beispiel wahr, dass die Barmherzigkeit die Gerechtigkeit und die Wahrheit nicht ausschließt, vor allem aber müssen wir erklären, dass die Barmherzigkeit die Fülle der Gerechtigkeit und die leuchtendste Bekundung der Wahrheit Gottes ist.“ (Al 311)


3.2 Die Überwindung des Schwarz-Weiß-Denkens


3.2.1 Die Logik des Evangeliums


„Zwei Arten von Logik des Denkens und des Glaubens … durchziehen die gesamte Geschichte der Kirche: ausgrenzen und wiedereingliedern.“ (Franziskus: Homilie in der Eucharistiefeier mit den neuen Kardinälen am 15. Februar 2015)

Es waren die deutschsprachigen Bischöfe, die sich während der Synode 2015 zur Schuld der zeitgenössischen Kirche an unbarmherziger Ausgrenzung bekannten: 
„Im falsch verstandenen Bemühen, die kirchliche Lehre hochzuhalten, kam es in der Pastoral immer wieder zu harten und unbarmherzigen Haltungen, die Leid über Menschen gebracht haben, insbesondere über ledige Mütter und außerehelich geborene Kinder, über Menschen in vorehelichen und nichtehelichen Lebensgemeinschaften, über homosexuell orientierte Menschen und über Geschiedene und Wiederverheiratete. Als Bischöfe unserer Kirche bitten wir diese Menschen um Verzeihung.“ 

Franziskus stellt der Logik der Ausgrenzung, die auch die Logik der Gesetzeslehrer ist, die Logik Gottes gegenüber, „der mit seiner Barmherzigkeit den Menschen umarmt und aufnimmt, ihn wieder eingliedert und so das Böse in Gutes, die Verurteilung in Rettung und die Ausgrenzung in Verkündigung verwandelt. … Der Weg der Kirche ist vom Jerusalemer Konzil an immer der Weg Jesu: der Weg der Barmherzigkeit und der Eingliederung. Das bedeutet nicht, die Gefahr zu unterschätzen oder die Wölfe in die Herde eindringen zu lassen, sondern den verlorenen Sohn aufzunehmen, entschieden und mutig die Verletzungen der Sünde zu heilen, sich die Ärmel aufzukrempeln und nicht darin zu verharren, passiv das Leiden der Welt zu beobachten.“ (Homilie 15.02.2015)                                                                                                

„Es geht darum, alle einzugliedern; man muss jedem Einzelnen helfen, seinen eigenen Weg zu finden, an der kirchlichen Gemeinschaft teilzuhaben, damit er sich als Empfänger einer unverdienten, bedingungslosen und gegenleistungsfreien Barmherzigkeit empfindet. Niemand darf auf ewig verurteilt werden, denn das ist nicht die Logik des Evangeliums!“ (Al 297) „Die Kirche möchte mit demütigem Verstehen auf die Familien zugehen, und es ist ihr Wunsch, jede einzelne und alle Familien zu begleiten, damit sie den besten Weg entdecken, um die Schwierigkeiten zu überwinden, denen sie begegnen.“ (Al 200) „Hinsichtlich der Art, mit den verschiedenen sogenannten 'irregulären' Situationen umzugehen, haben die Synodenväter einen allgemeinen Konsens erreicht, den ich unterstütze: Einer pastoralen Zugehensweise entsprechend ist es Aufgabe der Kirche, jenen, die nur zivil verheiratet oder geschieden und wieder verheiratet sind oder einfach so zusammenleben, die göttliche Pädagogik der Gnade in ihrem Leben offen zu legen und ihnen zu helfen, für sich die Fülle des göttlichen Planes zu erreichen.“ (Al 297)


3.2.2 Weg von der Defizitorientierung, hin zur wertschätzenden Wahrnehmung



Papst Franziskus hält nichts davon, sich in allgemeiner Kulturkritik zu ergehen oder über angeblichen Sittenverfall zu lamentieren. Er richtet seinen Blick auf das Gute, "das der Heilige Geist inmitten der Schwachheit und Hinfälligkeit verbreitet." (Al 308) Demgemäß erkennt er
den Menschen als das von Gott geliebte Wesen, dem das Beste zuzutrauen ist. Auch liegt es ihm fern, die Päpste vor ihm zu kritisieren. Wenn er Lehraussagen seiner Vorgänger als problematisch ansieht, so geht er einfach ein Stück in der Kirchengeschichte zurück und knüpft beim II. Vatikanum an. Gefallen ihm Äußerungen früherer Amtsinhaber, so zitiert er diese und bezieht sich darauf.

Von seinem Grundansatz her, dass alle Menschen der Barmherzigkeit Gottes bedürfen, wendet er sich allen Gläubigen unterschiedslos wohlwollend zu:
„Der Blick Christi, dessen Licht jeden Menschen erleuchtet leitet die Pastoral der Kirche gegenüber jenen Gläubigen, die einfach so zusammenleben oder nur zivil verheiratet oder geschieden und wieder verheiratet sind. In der Perspektive der göttlichen Pädagogik wendet sich die Kirche liebevoll denen zu, die auf unvollkommene Weise an ihrem Leben teilhaben. … Wenn eine Verbindung durch ein öffentliches Band offenkundig Stabilität erlangt – und von tiefer Zuneigung, Verantwortung gegenüber den Kindern, von der Fähigkeit, Prüfungen zu bestehen, geprägt ist –, kann dies als Chance gesehen werden.“ (Al 78) Bei allen, die sich um ernsthafte Partnerschaft bemühen, wirkt Gottes Gnade, die „ihnen den Mut schenkt, das Gute zu tun, um liebevoll füreinander zu sorgen und ihren Dienst für die Gemeinschaft, in der sie leben und arbeiten, zu erfüllen.“ (Al 291)

Papst Franziskus priorisiert die Ehe, aber er betont zugleich hinsichtlich eheähnlicher Gemeinschaften oder Partnerschaften zwischen Personen gleichen Geschlechts: „Wir müssen die große Vielfalt familiärer Situationen anerkennen, die einen gewissen Halt bieten können.“ (Al 52) Denn es gibt Familienformen, die das kirchliche Ideal des Zusammenlebens „zumindest teilweise und analog (verwirklichen). Die Synodenväter haben betont, dass die Kirche nicht unterlässt, die konstruktiven Elemente in jenen Situationen zu würdigen, die noch nicht oder nicht mehr in Übereinstimmung mit ihrer Lehre von der Ehe sind.“ (Al 392)


3.2.3 Gradualität, Unterscheidung und daraus folgende Konsequenzen



Papst Franziskus schließt an Johannes Paul II. an, der in „Familiaris consortio“ das sogenannte „Gesetz der Gradualität“ vorgeschlagen hatte, „denn er wusste: Der Mensch kennt, liebt und vollbringt das sittlich Gute in einem stufenweisen Wachsen. Es ist keine ‚Gradualität des Gesetzes’, sondern eine Gradualität in der angemessenen Ausübung freier Handlungen von Menschen, die nicht in der Lage sind, die objektiven Anforderungen des Gesetzes zu verstehen, zu schätzen oder ganz zu erfüllen.“ (Al 295) 

„Die Geschiedenen in einer neuen Verbindung … können sich in sehr unterschiedlichen Situationen befinden, die nicht katalogisiert oder in allzu starre Aussagen eingeschlossen werden dürfen, ohne einer angemessenen persönlichen und pastoralen Unterscheidung Raum zu geben.“ (Al 298) Mit der Option des Papstes für eine an der Lebenspraxis orientierte Unterscheidung distanziert er sich von einem  Vorgehen, bei dem konkrete lebensweltliche Situationen mechanisch unter ein allgemeines Prinzip subsumiert werden. Es geht jetzt darum auf die Wirklichkeit zu hören und das heißt, auf den Heiligen Geist zu achten. Nur so kann der Wille Gottes erkannt werden. (Vgl. Radio Vatikan, 08.04.2016)
„Die Unterscheidung muss dazu verhelfen, die möglichen Wege der Antwort auf Gott und des Wachstums inmitten der Begrenzungen zu finden.“ (Al 305)

Der Weg der Unterscheidung hat seine Wurzeln in der katholischen Tradition. „Für den Möchsvater Benedikt (480 - 547) war die discretio die Mutter aller Tugenden. … Solche discretio ist kein billiger Kompromiss zwischen den Extremen des Rigorismus und Laxismus, sondern wie jede Tugend, der Weg der verantworteten Mitte und des rechten Maßes.“ (Kasper, 2014, S. 67) Innerhalb der Spiritualität des Ignatius von Loyola SJ (1491-1556), der sich der jesuitische Papst verbunden weiß, spielt die „Unterscheidung der Geister“ eine zentrale Rolle. Im Interview mit Antonio Spadaro sagt Franziskus. „Die Weisheit der Unterscheidung gleicht die notwendige Zweideutigkeit des Lebens aus und lässt uns die geeignetsten Mittel finden.“ – „Die Unterscheidung erfolgt immer in der Gegenwart des Herrn, indem wir auf die Zeichen achten, die Dinge, die geschehen, hören, mit den Menschen, besonders mit den Armen, fühlen. Meine Entscheidungen, auch jene, die mit dem normalen Alltagsleben zu tun haben, … sind an eine geistliche Unterscheidung gebunden, die auf ein Erfordernis antwortet, das durch die Umstände, die Menschen und durch das Lesen der Zeichen der Zeit entsteht.“

Der Pontifex lädt ein „zur Barmherzigkeit und zur pastoralen Unterscheidung … angesichts von Situationen, die nicht gänzlich dem entsprechen, was der Herr uns aufträgt“. (Al 6)
Dass in einigen sogenannten „irregulären“ Situationen eine besondere Unterscheidung möglich und notwendig ist, hängt damit zusammen, dass „die Kirche im Besitz einer soliden Reflexion über die mildernden Bedingungen und Umstände (ist).“ (Al 301) Die deutschsprachigen Bischöfe haben diesen Grundsatz der situativen Billigkeit in ihrem zweiten Zwischenbericht der ordentlichen Bischofssynode auf den Punkt gebracht: „Im Sinne des Thomas von Aquin und auch des Konzils von Trient steht die Anwendung der Grundprinzipien mit Klugheit und Weisheit auf die jeweilige, oft komplexe Situation an. Dabei geht es nicht um Ausnahmen, in denen Gottes Wort nicht gültig sein soll, sondern um die Frage der gerechten und billigen Anwendung des Wortes Jesu – etwa des Wortes der Unauflösbarkeit der Ehe – in Klugheit und Weisheit.“ (DBK: Aktuelle Meldung, 14.10.2015 - Nr. 035)

Franziskus fordert die Hirten auf, dass diese „angesichts schwieriger Umstände und verletzter Familien … die verschiedenen Situationen gut … unterscheiden. Der Grad der Verantwortung ist nicht in allen Fällen gleich, und es kann Faktoren geben, die die Entscheidungsfähigkeit begrenzen. Daher sind, während die Lehre klar zum Ausdruck gebracht wird, Urteile zu vermeiden, welche die Komplexität der verschiedenen Situationen nicht berücksichtigen. Es ist erforderlich, auf die Art und Weise zu achten, in der die Menschen leben und aufgrund ihres Zustands leiden.“ (Al 79)

Das Prozedere des Unterscheidens impliziert als Konsequenz, dass „es nicht mehr möglich (ist) zu behaupten, dass alle, die in irgendeiner sogenannten ‚irregulären’ Situation leben, sich in einem Zustand der Todsünde befinden und die heiligmachende Gnade verloren haben.“ (Al 301)


3.2.4 Normabweichung und Anrechenbarkeit


Der Pontifex resümiert am Ende seine Schreibens, dass die Familie keine „himmlische Wirklichkeit und ein für alle Mal gestaltet (ist), sondern sie verlangt eine fortschreitende Reifung ihrer Liebesfähigkeit. … Alle sind wir aufgerufen, das Streben nach etwas, das über uns selbst und unsere Grenzen hinausgeht, lebendig zu erhalten, und jede Familie muss in diesem ständigen Anreiz leben.“ Das Zurückbleiben hinter der göttlichen Fülle erlaubt uns jedoch, „die geschichtliche Wegstrecke, die wir als Familie zurücklegen, zu relativieren, um aufzuhören, von den zwischenmenschlichen Beziehungen eine Vollkommenheit, eine Reinheit der Absichten und eine Kohärenz zu verlangen, zu der wir nur im endgültigen Reich finden können.“ (Al 325)

Es wäre der Vielfalt und Komplexität der Lebenspraxis nicht angemessen, würde man eine generelle Regel undifferenziert anwenden. „Es ist wahr, dass die allgemeinen Normen ein Gut darstellen, das man niemals außer Acht lassen oder vernachlässigen darf, doch in ihren Formulierungen können sie unmöglich alle Sondersituationen umfassen. Zugleich muss gesagt werden, dass genau aus diesem Grund das, was Teil einer praktischen Unterscheidung angesichts einer Sondersituation ist, nicht in den Rang einer Norm erhoben werden kann.“ (Al 304)
Franziskus verweist an dieser Stelle in einer Fußnote (350) auf die Internationale Theologische Kommission, die davon ausgeht, dass „nur das Gewissen des Subjekts, das Urteil seiner praktischen Vernunft, die unmittelbare Norm des Handelns formulieren (kann).“ Die Reflexion des Gewissens beinhaltet zwar auch das Miteinbeziehen der allgemeinen moralischen Normen; dabei ist jedoch zu beachten, dass die bereits bestehende Gesamtheit aus Regeln dem sittlichen Subjekt nicht a priori  auferlegt ist, sondern diese „ist eine objektive Inspirationsquelle für sein höchst personales Vorgehen der Entscheidungsfindung. Aufgrund der Bedingtheiten oder mildernder Faktoren ist es möglich, dass man mitten in einer objektiven Situation der Sünde – die nicht subjektiv schuldhaft ist oder es zumindest nicht völlig ist – in der Gnade Gottes leben kann, dass man lieben kann und dass man auch im Leben der Gnade und der Liebe wachsen kann, wenn man dazu die Hilfe der Kirche bekommt.“ (Al 305)

„Wenn man die zahllosen Unterschiede der konkreten Situationen … berücksichtigt, kann man verstehen, dass man von der Synode oder von diesem Schreiben keine neue, auf alle Fälle anzuwendende generelle gesetzliche Regelung kanonischer Art erwarten durfte. Es ist nur möglich, eine neue Ermutigung auszudrücken zu einer verantwortungsvollen persönlichen und pastoralen Unterscheidung der je spezifischen Fälle. Und da der Grad der Verantwortung nicht in allen Fällen gleich ist, müsste diese Unterscheidung anerkennen, dass die Konsequenzen oder Wirkungen einer Norm nicht notwendig immer dieselben sein müssen.“ (Al 300)

Wie schon in „Evangelii gaudium“ (Nr. 44) stellt der Papst heraus, was der Katechismus der Katholischen Kirche mit großer Klarheit lehrt: „Die Anrechenbarkeit einer Tat und die Verantwortung für sie können durch Unkenntnis, Unachtsamkeit, Gewalt, Furcht, Gewohnheiten, übermäßige Affekte sowie weitere psychische oder gesellschaftliche Faktoren vermindert, ja sogar aufgehoben sein. … Aus diesem Grund beinhaltet ein negatives Urteil über eine objektive Situation kein Urteil über die Anrechenbarkeit oder die Schuldhaftigkeit der betreffenden Person.“ (Al 302)

Franziskus beschränkt sich nicht darauf, zwischen einer Situation, die objektiv nicht den Anforderungen des Evangeliums entspricht, und einem möglichen subjektiven Schuldig-werden zu differenzieren, sondern er heißt Getaufte, die geschieden und zivil wiederverheiratet sind, willkommen, indem er erklärt: „Sie sind Getaufte, sie sind Brüder und Schwestern, der Heilige Geist gießt Gaben und Charismen zum Wohl aller auf sie aus.“ (Al 299) Aus dieser Perspektive ergibt sich folgerichtig, dass zu prüfen ist, „welche der verschiedenen derzeit praktizierten Formen des Ausschlusses im liturgischen, pastoralen, erzieherischen und institutionellen Bereich überwunden werden können.“ (Al 299) Diese Aussage entstammt dem Abschlussbericht der Bischofssynode 2015 (Nr. 84). In einer Fußnote konkretisiert der Papst, dass auch die Sakramentenordnung nicht außen vor bleibt, „da die Unterscheidung erkennen kann, dass in einer besonderen Situation keine schwere Schuld vorliegt.“ (Al 300, Fußnote 336)


3.3 Die Wieder-in–Kraft-Setzung der persönlichen Gewissensentscheidung




In seiner Analyse der heutigen Situation der Familie äußert der Papst kirchliche Selbstkritik. „Wir (müssen) demütig und realistisch anerkennen, dass unsere Weise, die christlichen Überzeugungen zu vermitteln, und die Art, die Menschen zu behandeln, manchmal dazu beigetragen haben, das zu provozieren, was wir heute beklagen.“ (Al 36) Auch beanstandet er die bisherige Normfixierung der Kirche, die die Gnade außen vor gelassen hat. Zudem hätte die Kirche „Schwierigkeiten, die Ehe vorrangig als einen dynamischen Weg der Entwicklung und Verwirklichung darzustellen und nicht so sehr als eine Last, die das ganze Leben lang zu tragen ist.“ (Al 37) Anschließend konstatiert Franziskus, dass die Kirche sich schwer tut, „dem Gewissen der Gläubigen Raum zu geben, die oftmals inmitten ihrer Begrenzungen, so gut es ihnen möglich ist, dem Evangelium entsprechen und ihr persönliches Unterscheidungsvermögen angesichts von Situationen entwickeln, in denen alle  Schemata auseinanderbrechen. Wir sind berufen, die Gewissen zu bilden, nicht aber dazu, den Anspruch zu erheben, sie zu ersetzen.“ (Al 37)

Was der Pontifex da formuliert, kann man mit Fug und Recht einen Paradigmenwechsel nennen. Denn er verabschiedet sich von einem katholischen Lehramt, das als unmoralisch qualifiziertes Fehlverhalten von Gläubigen unerbittlich sanktioniert, und setzt auf den mündigen Christen, der über ein elaboriertes Gewissen verfügt.

Dieser Reformansatz, den man als Moral der Person bezeichnen könnte, manifestiert sich beispielsweise bei dem Thema Familienplanung. Hier verweist Franziskus auf die klare Aussage des Zweiten Vatikanischen Konzils: „Beide (Ehegatten) sollen durch gemeinsame Überlegung versuchen, sich ein sachgerechtes Urteil zu bilden.“ (Gs 50) „Die verantwortliche Entscheidung für die Elternschaft setzt die Bildung des Gewissens voraus, die verborgenste Mitte und das Heiligtum im Menschen, wo er allein ist mit Gott, dessen Stimme in diesem seinem Innersten zu hören ist.“ (Al 222)  Dieser – dem Abschlussbericht der Synode entnommene Satz – rekurriert auf die Gewissensdefinition des II. Vatikanums.

Von zentraler Bedeutung ist das Gewissen des Gläubigen, wenn es um die Zulassung einzelner wiederverheirateter Geschiedener zu den Sakramenten geht. Kardinal Kasper hat in seiner Rede vor dem Konsistorium 2014 ein Bedingungsgefüge vor Augen geführt, das nach einer Zeit der Neuorientierung die Teilnahme am Sakrament der Buße und Kommunion legitimieren könnte. Den von ihm vorgeschlagenen Weg der geistlichen Unterscheidung, pastoralen Klugheit und Weisheit (vgl. Kasper, 2014, S. 67) hat sich die Synode zu eigen gemacht.

Im Hinblick auf wiederverheiratete geschiedene Gläubige ist „anzuerkennen, dass die Verantwortung hinsichtlich bestimmter Handlungen oder Entscheidungen nicht in allen Fällen gleich ist. Die pastorale Bemühung, die Geister zu unterscheiden, muss sich, auch unter Berücksichtigung des  recht geformten Gewissens der Menschen, dieser Situationen annehmen. … Der Weg der Begleitung und der Unterscheidung richtet diese Gläubigen darauf aus, sich ihrer Situation vor Gott bewusst zu werden. Das Gespräch mit dem Priester im Forum internum trägt zur Bildung einer rechten Beurteilung dessen bei, was die Möglichkeit einer volleren Teilnahme am Leben der Kirche behindert, und kann helfen, Wege zu finden, diese zu begünstigen und wachsen zu lassen.“ (Abschlussbericht der Synode 2015, Nr. 85/86) Der Verfahrensweg des Forum internum wird vom Papst in "Amoris laetitia" aufgegriffen. (vgl. Al 300)

Franziskus qualifiziert es als „kleinlich, nur bei der Erwägung stehen zu bleiben, ob das Handeln einer Person einem Gesetz oder einer allgemeinen Norm entspricht oder nicht, denn das reicht nicht aus, um eine völlige Treue gegenüber Gott im konkreten Leben eines Menschen zu erkennen und sicherzustellen.“ (Al 304) Denn das Gewissen des Menschen kann nicht nur erkennen, dass eine Situation objektiv nicht den generellen Anforderungen des Evangeliums entspricht. Es kann auch aufrichtig und ehrlich das erkennen, was vorerst die großherzige Antwort ist, die man Gott geben kann, und mit einer gewissen moralischen Sicherheit entdecken, dass dies die Hingabe ist, die Gott selbst inmitten der konkreten Vielschichtigkeit der Begrenzungen fordert, auch wenn sie noch nicht völlig dem objektiven Ideal entspricht. Auf jeden Fall sollen wir uns daran erinnern, dass diese Unterscheidung dynamisch ist und immer offen bleiben muss für neue Phasen des Wachstums und für neue Entscheidungen, die erlauben, das Ideal auf vollkommenere Weise zu verwirklichen.“ (Al 303)




4. Synodalität und die Zulassung von divergierenden Interpretationen der einen Lehre





In „Evangelii gaudium“ schrieb der Papst: „Meine Aufgabe als Bischof von Rom ist es, offen zu bleiben für die Vorschläge, die darauf ausgerichtet sind, dass eine Ausübung meines Amtes der Bedeutung, die Jesus Christus ihm geben wollte, treuer ist und mehr den gegenwärtigen Notwendigkeiten der Evangelisierung entspricht.“ (Nr. 32) Schon Johannes Paul II. sah die Notwendigkeit, „eine Form der Primatsausübung zu finden, die … sich … einer neuen Situation öffnet.“ (Ut unum sint, 1995, Nr.95) „Das Papsttum und die zentralen Strukturen der Universalkirche haben es nötig, dem Aufruf zu einer pastoralen Neuausrichtung zu folgen. Das Zweite Vatikanische Konzil sagte, dass in ähnlicher Weise wie die alten Patriarchatskirchen die Bischofskonferenzen vielfältige und fruchtbare Hilfe leisten können, um die kollegiale Gesinnung zu konkreter Verwirklichung zu führen … Eine übertriebene Zentralisierung kompliziert das Leben der Kirche und ihre missionarische Dynamik, anstatt ihr zu helfen.“ (Eg 32)

Papst Franziskus macht ernst mit der Dezentralisierung der Kirche. In seiner Ansprache anlässlich der 50-Jahr-Feier der Errichtung der Bischofssynode am 17.10.2015 sagt er: 
„Die Welt, in der wir leben und die in all ihrer Widersprüchlichkeit zu lieben und ihr zu dienen wir  berufen sind, verlangt von der Kirche eine Steigerung ihres Zusammenwirkens in allen Bereichen ihrer Sendung. Genau dieser Weg der Synodalität ist das, was Gott sich von der Kirche des dritten Jahrtausends erwartet. Was der Herr von uns verlangt, ist in gewisser Weise schon im Wort ‚Synode’ enthalten. Gemeinsam voranzugehen – Laien, Hirten und der Bischof von Rom –, ist ein Konzept, das sich leicht in Worte fassen lässt, aber nicht so leicht umzusetzen ist.“

Nachdem „Gott die Gesamtheit der Gläubigen mit einem Instinkt des Glaubens (begabt) – dem sensus fidei –, der ihnen hilft, das zu unterscheiden, was wirklich von Gott kommt“ (Eg 119), kann die Gesamtheit der Gläubigen im Glauben nicht irren. (vgl. Lg 12) Diese Glaubensüberzeugung mündete in den päpstlichen Wunsch, „ dass das Volk Gottes bei der Vorbereitung auf den zweifachen Synodentermin konsultiert würde. … Wie wäre es möglich gewesen, über die Familie zu sprechen, ohne Familien zu Rate zu ziehen und ihre Freuden und Hoffnungen, ihre Leiden und ihre Ängste anzuhören?“ (Ansprache)

Welch großen Wert Franziskus darauf legt, gemeinsam mit den Bischöfen voranzugehen, zeigt das Vorgehen bei den beiden Synoden. Um einen breiten Konsens zu erreichen, ließ er strittige Passagen des Abschlussdokumentes so formulieren, dass keine die Zwei-Drittel-Mehrheit verfehlte. Der Preis dieses Procedere war, dass die Thematik der gleichgeschlechtlich Liebenden bei der Synode 2015 ausgespart werden musste.

In einem Interview mit Radio Vatikan (08.04.2016) stellt Kardinal Schönborn den Geist der Synodalität von „Amoris laetitia“ heraus:
„Ich kenne kein postsynodales Schreiben seit es die Synode gibt, das so ausführlich die Arbeit der Bischöfe, der Synodenväter integriert hat wie dieses Dokument. Und immer wieder sagt Papst Franziskus in seinem Schreiben: Ich mache mir zu eigen, was die Synodenväter gesagt haben. Die Synodenväter haben Folgendes beraten und mir vorgeschlagen, und ich nehme es auf und an. Das ist ein gelebter synodaler Prozess, in dem der Papst ganz klar seine Rolle spielt. Er hat das letzte Wort, er hat das Wort des obersten Hirten. Aber er spricht dieses Wort im Hören auf das, was in der Kirche sich getan hat und von der Kirche gesagt worden ist.“

Neben das Einheitsprinzip des gemeinsamen Vorangehens stellt der Pontifex bewusst das Prinzip der Vielfältigkeit in der einen Kirche. Zu Beginn seines Schreibens erklärt er: „…dass nicht alle doktrinellen, moralischen oder pastoralen Diskussionen durch ein lehramtliches Eingreifen entschieden werden müssen. Selbstverständlich ist in der Kirche eine Einheit der Lehre und der Praxis notwendig; das ist aber kein Hindernis dafür, dass verschiedene Interpretationen einiger Aspekte der Lehre oder einiger Schlussfolgerungen, die aus ihr gezogen werden, weiterbestehen.“ (Al 3)

Mit dieser Aussage beendet Franziskus einen jahrzehntelangen Stillstand in der katholischen Morallehre. Ausdrücklich ermuntert er zur „Reflexion der Hirten und Theologen“ und initiiert damit einen neuen Dialog von Lehramt und Moraltheologie. Zudem zieht er Konsequenzen aus der Tatsache, dass die Kulturen sehr unterschiedlich sind und deshalb jeder allgemeine Grundsatz inkulturiert werden muss. Es wird „Aufgabe der verschiedenen Gemeinschaften sein, stärker praxisorientierte und wirkungsvolle  Vorschläge zu erarbeiten, die sowohl die Lehre der Kirche als auch die Bedürfnisse und Herausforderungen vor Ort berücksichtigen.“ (Al 199) Damit ist der Weg frei „für ortskirchliche Interpretationen, etwa für das Modell, das das Erzbistum Freiburg vorgelegt hat und das nach einem Prozess der Gewissensprüfung und Versöhnung in Einzelfällen einen Zugang von wiederverheirateten Geschiedenen zum Sakramentenempfang ermöglichen kann.“ (Stephan Goertz im Interview mit katholisch.de)

War die katholische Kirche bisher ein relativ statisches Gebilde, das nur im Ausnahmezeitraum des II. Vatikanums in den 60er-Jahren eine lebendige Dynamik entfaltete, hat Franziskus jetzt eine institutionelle Struktur grundgelegt, die zu ungleichzeitigen Entwicklungen führen und einen permanenten Prozess des Diskurses und der Erneuerung auslösen wird.



Schluss




Ich möchte am Ende auf den scheinbar zentralen Grundwiderspruch von „Amoris laetitia“ zurückkommen, den ich am Anfang meiner Ausführungen benannt habe. Wie kann es sein, dass der Pontifex einerseits betont, „dass auf die unverkürzte Vollständigkeit der Morallehre der Kirche zu achten ist“ (Al 311) und er auf der anderen Seite postuliert, dass „es nicht mehr möglich (ist), zu behaupten, dass alle, die in irgendeiner sogenannten „irregulären“ Situation leben, sich in einem Zustand der Todsünde befinden und die heiligmachende Gnade verloren haben.“ (Al 301) ?

Die Antwort lautet, dass nachkonziliare Päpste die katholische Morallehre verkürzt haben. Kardinal Walter Kasper hat im Zusammenhang mit seiner Rede vor dem Konsistorium geäußert, „dass die Einmaligkeit jeder Person ein grundlegender Bestandteil der christlichen Anthropologie (ist). Kein Mensch ist einfach ein Fall eines allgemeinen menschlichen Wesens, der aufgrund einer allgemeinen Regel beurteilt werden könnte.“ (Kasper, 2014, S. 80) Dementsprechend heißt es im Katechismus der katholischen Kirche:
„Die Anrechenbarkeit einer Tat und die Verantwortung für sie können durch Unkenntnis, Unachtsamkeit, Gewalt, Furcht, Gewohnheiten, übermäßige Affekte sowie weitere psychische oder gesellschaftliche Faktoren vermindert, ja sogar aufgehoben sein.“ (Nr. 1735) Insofern war es völlig unzureichend, wenn das vorfranziskanische Lehramt alle von der Idealnorm abweichenden Fälle unterschiedslos als "objektiv ungeordnet" stigmatisiert hat, anstelle sich der Situation des Sünders in seiner je einmaligen personalen Würde zuzuwenden. 

Die zu kritisierende Verkürzung lässt sich exemplarisch an einer Aussage des Präfekten der Glaubenskongregation, Joseph Ratzinger, aufzeigen, die dieser 1994 in einem Schreiben an die Bischöfe gemacht hat:
„Wenn Geschiedene zivil wiederverheiratet sind, befinden sie sich in einer Situation, die dem Gesetz Gottes objektiv widerspricht. Darum dürfen sie, solange diese Situation andauert, nicht die Kommunion empfangen.“ 
(Kongregation für die Glaubenslehre: Schreiben an die Bischöfe der katholischen Kirche, 14.09.1994)

Zu diesem Punkt schreibt die deutsche Bischofskonferenz in ihrer Würdigung des nachsynodalen Schreibens „Amoris laetitia“: 

„Es reicht eben nicht für ein Urteil einfach festzustellen, dass eine zweite zivile Verbindung im Widerspruch zur ersten, sakramentalen Ehe und damit im Widerspruch zur objektiven Norm steht. Es ist vielmehr notwendig, in jedem einzelnen Fall die besondere Lebenssituation der Betroffenen zu betrachten. … Nur im Blick auf die jeweilige Lebensgeschichte und Realität lässt sich gemeinsam mit den betroffenen Personen klären, ob und wie in ihrer Situation Schuld vorliegt, die einem Empfang der Eucharistie entgegensteht.“

Der Grund dafür, warum es unter Johannes Paul II. und Joseph Ratzinger wider deren besseres Wissen zu einer Vereinseitigung der Morallehre kam, lässt sich nach meiner Auffassung in dem apostolischen Schreiben „Familiaris consortio“ finden. Der damalige Papst führt dort als Begründung für den Ausschluss von wiederverheirateten Geschiedenen auch ein pastorales Argument an: „Ließe man solche Menschen zur Eucharistie zu, bewirkte dies bei den Gläubigen hinsichtlich der Lehre der Kirche über die Unauflöslichkeit der Ehe Irrtum und Verwirrung.“ 
(Fc 84)
Franziskus: "Ich verstehe diejenigen, die eine unerbittlichere Pastoral vorziehen, die keinen Anlass zu irgendeiner Verwirrung gibt. Doch ich glaube ehrlich, dass Jesus Christus eine Kirche möchte, die achtsam ist gegenüber dem Guten, das der Heilige Geist inmitten der Schwachheit und Hinfälligkeit verbreitet: eine Mutter, die klar ihre objektive Lehre zum Ausdruck bringt und zugleich nicht auf das mögliche Gute verzichtet, auch wenn sie Gefahr läuft, sich mit dem Schlamm der Straße zu beschmutzen." (Al 308)